„Geflochtenes Süßgras“ und der eigene Schreibtisch

Seit langem hat mich kein Buch so sehr fasziniert wie Geflochtenes Süßgras von Robin Wall Kimmerer:
500.000-mal verkauft, in 9 Sprachen übersetzt, auf der Bestseller-Liste der New York Times. Das klingt nach Erfolg, doch für mich zählt etwas Anderes.

Robin Wall Kimmerer ist Professorin für Umweltbiologie an der State University of New York und auch Mitglied der Citizen Potawatomi Nation, hat über ihre naturwissenschaftliche  Ausbildung hinaus indigene Wurzeln. Während ich fasziniert bin von ihrem exakten botanischen Wissen, spricht mich die indigene Haltung an, aus der heraus sie dieses Buch geschrieben hat.

In Zeiten von Klimakrise machen sich viele Menschen Gedanken, wie es weitergeht und weitergehen kann. Es gibt viele technische Erfindungen, die möglich wären, um CO2 zu binden, zu verringern, Müll aus den Meeren zu fischen, erneuerbare Energie auszubauen. Doch all dem fehlt diese ganz besondere Haltung, die ich in Kimmerers Buch finde:

Da ist die Thanksgiving Address – die traditionelle Danksagung der Onondaga. Mit ihr wird eine Kultur der Dankbarkeit gepflegt und es sind die „Worte, die vor allem anderen kommen“. So beginnen zum Beispiel Schülerinnen und Schüler jede Schulwoche mit dieser umfassenden Danksagung; sie wird auch zu Beginn von Tagungen oder Familienfeiern gesprochen. Hier ein Auszug:

„Wir sind überall umgeben von Bäumen. Die Erde hat viele Baumfamilien, jede mit ihrer eigenen Lehre und ihrem Nutzen. Die einen geben Schutz und Schatten, die anderen Frucht und Schönheit und viele nützliche Gaben. Der Erste unter den Bäumen ist der Ahorn, denn er gibt uns Zucker, wenn die Menschen ihn am meisten brauchen. Viele Völker der Erde erkennen in einem Baum ein Symbol für Frieden und Kraft. Einmütig entrichten wir dem Baumleben Gruß und Dank. Unsere Gedanken, unsere Herzen sind nun vereint.“ (S. 131)

Dann gibt es das Prinzip der „Ehrenwerten Ernte“: „Nimm nur, was du brauchst. Nimm nie mehr als die Hälfte. Ernte so, dass du möglichst wenig Schaden anrichtest. Nutze es respektvoll. Verschwende nie, was du genommen hast. Teile. Danke für das, was dir geschenkt wurde. Erhalte die, die dich erhalten, und die Ernte wird für immer bleiben.“ (S. 214)

Was wäre, wenn wir mit dieser Haltung auf unseren Alltag, unseren Konsum, unser Leben schauten? Kimmerer unternimmt einen Selbstversuch und versucht mit dieser Haltung der „Ehrenwerten Ernte“ in einer Shopping Mall ihre Schreibwaren einzukaufen. „Ich versuche hinter diesen Stapeln Papier die Bäume zu spüren.“ (S. 232) Das ist nicht leicht, wie sie selbst feststellt.
Ich schaue mich in meinem eigenen Arbeitsplatz um: Die Schreibtischplatte einst eine Buche. Die Rollcontainer einst eine Kiefer. Die Bleistifte, einst Bäume, unbekannte Art. Der Korkuntersetzer für meine Kaffeetasse – Korkeiche. Das Papier, die Bücher – meist aus Bäumen produziert – manches zum Glück aus Recyclingmaterial.

Ich lese Nachrichten: Jede Minute geht auf der Welt eine Waldfläche in der Größe von 27 Fußballfeldern verloren. Auf der Klimakonferenz haben sich nun mehr als 100 Länder dazu verpflichtet, die Entwaldung bis zum Jahr 2030 zu stoppen.

Ich beginne zu rechnen 60 Minuten x 24 Stunden x 365 Tage x 7 Jahre x 27 Fußballfelder … es könnten also bis 2030 noch bis zu 128 Millionen weitere fußballfeldgroße Waldstücke abgeholzt werden!!! Und was ist mit den 93 weiteren Staaten der UN? Holzen diese weiter ab? Gibt es überhaupt noch irgendwann Wald? Und wenn ja, wie gesund ist er? Natürlich gibt es auch viele Baumpflanzaktionen, doch ein Baum braucht Jahre bis er groß.

Wieder fällt mir die Ehrenwerte Ernte ein: „Nimm nur, was du brauchst. Nimm nie mehr als die Hälfte. Ernte so, dass du möglichst wenig Schaden anrichtest. Nutze es respektvoll. Verschwende nie, was du genommen hast. Teile. Danke für das, was dir geschenkt wurde. Erhalte die, die dich erhalten, und die Ernte wird für immer bleiben.“ (S. 214)

Ich bin dankbar für den Baum, der mir meinen Schreibtisch ermöglicht hat, für die Stifte und das Papier; all das gehört für mich zum täglichen Arbeiten. Ich bin dankbar für die Ablage aus Holz, die mir meine Mutter vor vielen Jahren geschenkt hat. Es gibt sie noch immer, während jene aus Kunststoff schon längst wieder im Müll gelandet sind.

Schreibimpuls:

  • Schau dich um? Wofür bist du heute dankbar? Was möchtest du mehr achten, bewusster wahrnehmen? Schreibe es auf!
  • Lies das Zitat über die Ehrenwerte Ernte. Schreibe 15 Minuten frei – lass alle Gedanken auf das Papier oder in die Tastatur laufen, die dir bezüglich dieser Sätze in den Sinn kommen. Lies anschließend, was du geschrieben hast. Woran könntest du etwas ändern?

Leseimpuls:

Robin Wall Kimmerer: Geflochtenes Süßgras. Erschienen im aufbau-Verlag.

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